Gießen

Jede Stadt, ja manchmal selbst ein Weiler mit nur fünf Häusern, ist voller Fotomotive. Wer sich dafür kein Auge antrainiert hat sieht sie nicht und geht achtlos daran vorbei.

Wer nach Mittelhessen kommt kennt vielleicht Marburg mit seiner Universität, aber Städtchen wie Gießen sind vielen kein Begriff. Woran das liegen könnte sieht wer vorbei kommt. Viel Fünfzigerjahre-Architektur und sehr wenig Fachwerkbauten. Woran das liegt? Das passende Datum war der 6. Dezember 1944. An diesem Tag haben die Alliierten in einem Luftangriff das Alte Gießen platt gemacht, wie zahllose andere Städte zuvor auch. Es war halt Krieg; ein sinnloser Krieg, den der braune Adolf am 1. September 1939 mit dem Überfall auf Polen angefangen hat.

Nach dem Krieg war die Not groß, und so wie andere auch hat man getan was man tun konnte, um Wohnraum zu schaffen. Die Folgen davon sieht man noch heute, wenn man achtsam durch die Straßen geht und Häuser findet, bei denen auch im Jahr 2023 alles oberhalb des Erdgeschosses fehlt als wäre der Abrissbagger vorbei gekommen.

Unverhofft kommt oft. Eigentlich war ich nur gekommen um mir die Stadt anzusehen und einen schönen Sonntag zu verbringen. Am Bahnhof hing dann ein Plakat: Deutsch-Holländischer Stoffmarkt. Mit etwas Phantasie denkt man da an Coffeeshop. Da gibt es ja auch nicht nur Kaffee, und wer bei der Annonce Holland so sehr betont … Nun ja, der Seltersweg stand da nun an diesem Sonntag Morgen wirklich von A bis Z voller Stände, und auf den Tischen Stoffballen und Auslagen dass es jeder Kurzwarenabteilung früherer Kaufhäuser zur Ehre gereicht hätte! Nur nichts in kleinen Tütchen!

Dafür fand man am Ende des Wegs etwas Kreide auf dem Boden. Zum Fahrradtag da lang!

Was war denn das nun schon wieder? Auf dem Marktplatz kein Markt, auf dem Kirchplatz keine Kirche ausser dem übrig gebliebenen Turm als Denkmal, und auf dem Brandplatz … nun ja, gebrannt hat es dort nicht. Nicht mehr, denn auch dieser Name hat Gründe in der Geschichte.

Zweck des Fahrradtags war, die Bürgerinnen und Bürger zum Radfahren zu animieren. Dazu gab es Informationen, Aktionen und manches was man dazu so machen kann. Die Polizei codierte Räder, damit sie keiner klaut, es fanden Sternfahrten aus der Umgebung zur Veranstaltung statt, und auch das leibliche Wohl kam nicht zu kurz. Bei den Versteigerungen von herrenlos aufgefundenen Fahrrädern wurde klar: da sind zwei Verkaufstalente verloren gegangen. „Man muss kaum was machen, die Räder sind fast fahrbereit. Es fehlen nur Sattel und Bremse!“ Nun ja, wer Augen hat zum Sehen der sehe, und wie das bei Versteigerungen nun mal so ist, das Risiko bietet mit.

Von der mobilen Werkstatt über Probefahrten für Lastenräder war so manches geboten. Auch eine Fahrradwaschanlage sorgte für Interesse. Leider konnte ich nicht bis zum Abend bleiben. Da wäre noch ein Laufradwettbewerb für die Kleinsten gekommen, und auch in der Stadt wäre noch manches Sehenswerte im Angebot. Das ist das Risiko, wenn man mit der Bahn reist und ein Streik im Anmarsch ist. Es war gewarnt worden. Nicht erst ab 22 Uhr bei den Privatbahnen, auch vorher schon konnte es demnach zu Unregelmäßigkeiten und Ausfällen kommen. Da ich auch wieder heim wollte habe ich frühzeitig den Heimweg angetreten. Das Deutschlandticket ermöglicht zwar solche Fahrten ohne extra Aufwand, aber nach den Gegebenheiten muss man sich trotzdem richten, sonst ist der Preis womöglich eine Übernachtung im (N)irgendwo.

Ein paar Bilder vom Tag sind bei Flickr hinterlegt. Weitere Ausflüge folgen.